Julia Hayden

MAY I SERVE YOU?

Ein achtsames Leben

Liebe Leserinnen und Leser.

Können Sie sich an Ihren ersten Bissen in einen Apfel erinnern? Oder an Ihren erster Schultag? An den Moment, als Sie sich zum ersten Mal verliebt haben? An Ihre erste Verletzung? An die erste Wanderung auf einen Berggipfel? Wie war es? Wie sah es aus? Gab es irgendwelche Geräusche? Welche? Wie hat es sich angefühlt? Wie hat es gerochen oder geschmeckt?

Vielleicht erinnern wir uns auch an Situationen als Gesellschaft als Ganzes? Erinnert sich jemand von uns an die Angst, die wir nach der Katastrophe in Tschernobyl hatten? Haben einige von uns Erinnerungen an die Sorgen, die der hohe Wasserstand der Donau 2006 geschaffen hat? Erinnern wir uns an den Hunger als Folgen des zweiten Weltkriegs? Können wir immer noch das Schießpulver riechen? Hören wir noch die Sirenen? Spüren wir die Steifheit des Schocks in unseren Gliedern? Wann kommt die Erinnerung zu uns? Und wie? Erinnern wir uns als Gruppe? Oder als Individuum?

Sich an Dinge, Situationen und Menschen zu erinnern, die unser Leben betreffen, kann schmerzhaft sein, oder auch traurig, dankbar und glücklich machen. Erinnerungen hinterlassen Spuren und verursachen Auswirkungen, die auf jeder Ebene unserer Existenz stattfinden können. Wenn sich Zellen erinnern, nennen wir es „Epigenetik“. Wenn sich der Körper erinnert, nennen wir es „Felt Sense“. Wenn unser Geist oder unsere Seele sich an etwas erinnern, nennen wir es „Karma“. Wenn die Welt sich erinnert, nennen wir es „Klimawandel“. Wenn wir uns alle als Gesellschaft oder Gruppe erinnern, nennen wir es „kollektives Gedächtnis“ und es sorgt für Glaubenssätze, Werte-Entwicklung und Dogmen.

Erinnerungen sorgen für Gefühle und Gedanken. Mit bestimmten Maßnahmen der Therapie oder durch sogenanntes „Reframing“ kann es uns gelingen, diese Erinnerungen und somit manifestierte Gefühle und Gedanken zu transformieren, die in direktem Zusammenhang mit unserem Handeln und der komplexen Wirkungskette unseres Lebens insgesamt stehen.

Epigenetik ist im engsten Sinne das, was unsere Gene erleben und an was sie sich erinnern können. Die DNA im Zellkern – auch der Code unseres Lebens genannt – enthält mehrere Komponenten. Etwa 2 Prozent davon verkörpern Informationen über unsere Individualität, wie blaue Augen, rote Haare oder andere Zeichen. Rund 98 Prozent unserer Gene sind formbar. Sie erinnern sich und können durch jede Gewohnheit verändert werden, die wir haben, sowie durch jede Situation, die wir leben und jede Erinnerung, die wir mit uns tragen. Die Codierungen der DNA beeinflussen direkt unsere Gesundheit, obwohl sie nur zwei, allerdings durchaus bemerkenswerte Möglichkeiten der Einstellung haben. Sie sind entweder offen oder geschlossen. Öffnung steht für die Möglichkeit, Neurotransmitter aufnehmen zu können. Geschlossenheit bedeutet, dass Gene passiv sind und keine Rezeptoren aufnehmen können. Diese scheinbar kleine Auswirkung hat in Wirklichkeit eine große Bedeutung für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit, denn es geht dabei um Substanzen wie Insulin, Proteine, Energie oder Fette. Wir können die Aktivität der Gene beeinflussen, indem wir regelmäßige Gewohnheiten für gesunde Ernährung, Bewegung und emotionales Gleichgewicht schaffen. Selbst wenn einige unserer Codes auf der DNA vererbt werden, ist es möglich, sie mit jedem neuen Verhalten, das wir lernen, zu ändern.

Felt Sense ist, wie das Wort selbst andeutet, eine physische Erinnerung und keine Emotion. Der Körper spürt von innen jedes Gefühl, das in einem besonderen Moment aufkommt. Die inneren, physischen Empfindungen arbeiten in einer unbewussten, ganzheitlichen Art und Weise, nehmen Informationen auf und integrieren jede davon, um eine tiefe und intensive Erfahrung zu schaffen. Ein lebendiges System zu sein ist, als würden wir über empirisches Wissen verfügen. Wir geben unserer Existenz einen Sinn, indem wir eine Situation mit all unseren physischen Sinnen wie dem visuellen, akustischen, olfaktorischen, gustatorischen oder propriozeptiven wahrnehmen. Felt Sense kommt oft mit einem Trauma einher und seine Qualität und Position im Körper kann sich verändern. Über die Möglichkeit, Felt Sense zu modifizieren, entwickeln wir die Fähigkeit, mit unserem Körper zu arbeiten, um die Erinnerungen an Traumata in unseren Systemen zu vergessen und neu zu gestalten. Bewegung, manuelle Therapie, Massage, Akupunktur und andere brillante körpertherapeutische Methoden helfen uns, unseren Felt Sense positiv zu beeinflussen. Unsere Fitness und Robustheit hängt vom achtsamen Umgang mit den Verletzungen in unserem Körpersystem ab.

Karma ist ein Wort aus dem Sanskrit, der heiligen Sprache der vedischen Philosophie. Es bedeutet „handeln, erfüllen, etwas machen“. Karma geht mit „Dharma“ einher, was für jeden von uns eine Art Vereinbarung mit dem Universum bedeutet, unsere eigene kosmische Regel. Diese Regel ist wie ein Gebot der Veden, um das Leben mit gewaltfreiem, wahrheitsgemäßem, geduldigem, selbstkontrollierendem, mildem, empathischem und freundlichem Verhalten zu erfüllen. Was auch immer wir in unseren vorhergehenden Leben getan haben, prägt unser Karma. Wir erinnern uns tief in unseren Seelen. Was auch immer wir in diesem gegenwärtigen Leben tun, beeinflusst unser Karma – sofern wir uns mit diesem Gedanken anfreunden – für die nächsten Stufen, die wir erreichen. In der buddhistischen Meditation existieren Techniken, die versuchen, die Stufen der Existenz zu verkörpern, auf die wir in früheren Phasen unseres Seins gestoßen sind. Meditieren bringt Bewusstheit mit sich, während wir unserem inneren Selbst, unserer Seele, mit Achtsamkeit und Respekt begegnen. Die Methode der Meditation hilft uns klarere Gedanken darüber zu formulieren, wer wir sind und wer wir sein wollen. Wir erfahren dadurch Traurigkeit und Schmerz in Freude und Wohlbefinden, die auf tieferen Ebenen unseres Selbst liegen, berühren und neu definieren. Zusammen mit Meditation und Stille erlangen wir eine sogenannte karmische Gesundheit, die als heilsam gilt. Mit diesem Ansatz verbinden wir uns in Herz und Seele mit der Welt um uns herum.

Klimawandel ist das, was wir „Erinnerung der Welt“ nennen. Durch sie entsteht eine dramatisch schnelle Erderwärmung, hervorgerufen durch die veränderten Umweltbelastungen auf der Erde. Das „Gedächtnis“ unserer Welt verändert sich sehr schnell aufgrund von unseren Lebensgewohnheiten, wie zum Beispiel steigendes Konsumverhalten, vermehrtes Aufkommen von Plastikmüll, Kohlendioxid und andere Treibhausgase, die wir Menschen fortwährend produzieren. Die zunehmende Temperatur in der Atmosphäre hat Auswirkungen auf den Planeten. Der Meeresspiegel steigt und es entstehen schwere Wetterereignisse wie Überschwemmungen, Stürme und Dürren, welche in direktem Zusammenhang mit Landschaftsveränderungen, Verlust von Biodiversität, sowie mit wirtschaftlichen oder politischen, sozialen und zwischenmenschlichen Gegebenheiten stehen können.

Das kollektive Gedächtnis ist sehr wichtig, wenn es zu gesellschaftlichen Glaubenssätzen und Veränderungen kommt. Gruppen haben mehr Kraft, sich an Situationen und Dinge zu erinnern, weil sie sich auf das Wissen und die Erfahrung jedes ihrer Mitglieder verlassen können. Dies gibt Gruppen einen verbesserten Zugriff auf Informationen, da es sich bei den Mitgliedern um verschiedene Personen mit unterschiedlichen Ansichten und Hintergründen handelt. Zudem führt es zu gegenseitiger Bestätigung und Manifestation der Informationen. Das kann zu wunderbaren Debatten und Entscheidungen führen. Aus demselben Grund kann es aber auch zu negativen Entwicklungen kommen, da die Gruppenmitglieder vielleicht einer unrechten, unmoralischen oder unethischen Meinung folgen und sie als richtig und gerecht propagieren. Gruppen haben eine immense Macht über die Überzeugungen einer ganzen Gesellschaft. Daher ist es notwendig zu versuchen, damit zu arbeiten, um einen Paradigmenwechsel zu erreichen. Heute, im 21. Jahrhundert, können wir innovative Instrumente nutzen, um kollektive Gedächtnis zu verbreiten. Das Internet zum Beispiel. Dies kann eine großartige Chance sein, alte Glaubensvorstellungen in neue zu verwandeln, die von Liebe, Teilen, Frieden, Integration und Freude handeln. Es kann aber gleichsam falsche Nachrichten erzeugen, die zu Hass, Gier oder Krieg führen.

In diesem Sinne verbinden sich Epigenetik, Felt Sense, Karma, Klimawandel und kollektives Gedächtnis direkt mit unserem Handeln und dem Zusammenspiel mit den anderen Schichten der komplexen Wirkungsketten des Lebens. Ein Beispiel für eine komplexe Wirkungskette könnte mit unserer Atmosphäre beginnen. Wenn die Luft, die wir atmen, mehr toxische Elemente als gewöhnlich enthält, führt dies zu zunehmenden Erkrankungen unseres Atem- und Hautsystems wie Asthma, Allergien, Neurodermitis auf dem ganzen Planeten. Das Ungleichgewicht zwischen unserem Wohlbefinden und dem Bedarf an frischer Luft oder Medikamenten könnte zu Migrationsbewegungen oder Preissteigerungen bei Arzneimitteln führen. Dies könnte die menschliche Sicherheit, die sozialen Lebensbedingungen und die politische Stabilität verändern. Armut und Hunger könnten in speziellen Regionen aufgrund dieser Vorfälle entstehen und die Wahrscheinlichkeit von Konflikten wird größer. Im schlimmsten Fall kann dies Korruption, Kriminalität und den Zusammenbruch von Volkswirtschaften oder sogar Krieg heraufbeschwören. Dies könnte auch neue Auswirkungen auf Veränderungen auf jeder Ebene von der individuellen zur kollektiven Erinnerung haben.

Die zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Systeme stellt hier ein Problem dar. Während Transformieren und Reframing auf epigenetischer, felt sense oder sogar karmischer Ebene in jeder möglichen Dimension verständlich zu sein scheint, haben wir immer noch wenig Gefühl dafür, wie das Gleiche in Bezug auf Klimawandel oder kollektives Gedächtnis getan werden kann, da wir hier in enorm größeren Dimensionen denken müssen. Wir brauchen eine profunde Sicht über viele Disziplinen, um unsere kollektiven gesellschaftlichen Wertesysteme und Überzeugungen zu überdenken und neu zu gestalten.

Es liegt an uns, genauer zu betrachten, was uns zur Verfügung steht oder was wir bereits tun und nicht tun, um den Unterschied zu machen. Wir sollten uns bewusstmachen, welches Leid durch unachtsamen und überflüssigem Konsum von Ressourcen entsteht, was unmoralische Gedanken, Worte und Taten, Zerstörung, Ausbeutung und soziales Ungleichgewicht für Auswirkungen hat. Wir sollten viel mehr miteinander teilen, großzügiger werden und unseren Planeten mit seinen Pflanzen, Tieren und Menschen beschützen. Wir sollten Liebe und ein fröhliches, friedvolles Miteinander in unseren Familien und in der Gesellschaft kultivieren. Wenn wir uns mit jeder Zelle unseres Systems für die Welt um uns herum das kollektive kulturelle, gesellschaftliche, politische und spirituelle Wissen all unserer Vorfahren bis heute bewusstmachen, können wir es schaffen, über das Reframing unserer Erinnerungen das Leben mit neuen resilienten und versöhnlichen Inhalten zu füllen.

Wie wäre es, wenn wir heute einfach zum erneuten „ersten Mal“ in einen Apfel beißen würden? Wie wäre es, wenn wir uns auf ein Neues in jemanden oder etwas verlieben? Wie wäre es, wenn wir etwas Altbekanntes, heute einmal aus einer ganz anderen Perspektive entdecken?

Wie wird es wohl aussehen? Wird es irgendwelche Geräusche geben? Wie wird es sich anfühlen? Wie wird es riechen oder schmecken? Wie wird es sein?

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Thema von Anders Norén